Allerseelen, aber fröhlich
Was haben milchige Windlichter bei Sturm und Regen, vor Kerzenlicht flackernde Kürbisfratzen bei Kindergeschrei, schrille Kostüme bei lateinamerikanischen Klängen auf staubigen Straßen und ein Meer aus Lampions in sengender August-Hitze gemeinsam? Genau, den Tag der Toten. Ob in Deutschland (Windlicht), den USA (Kürbis), Mexiko (schrille Kostüme) oder Japan (Lampions): Weltweit gedenken Menschen ihrer verstorbenen Vorfahren. Während das in den westlicher gelegenen Ländern — sprichwörtlich — eher mal bizarre Züge annimmt, erzeugt das Fest in Japan mit Licht und Tanz schöne Bilder und eine angenehme Atmosphäre.
Sommerliches Idyll statt feuchter Novemberkälte
Wer, so wie ich, im Rahmen christlich-familiärer Traditionen das eine oder andere Mal mitsamt seiner Eltern oder Großeltern Anfang November auf den Friedhof zog, um dort am Grab verstorbener Angehöriger zu beten, den lässt allein die Erinnerung daran bis auf die Knochen frösteln. Sämtliche Umstände vermitteln ein Gefühl von Trostlosigkeit: das feucht-kalte Novemberwetter, die bemüht trauerschwere Stimmung der Angehörigen, der weinerliche Gebetsritus und schließlich der Anlass selbst: »Die katholischen Christinnen und Christen glauben, dass Gott nicht alle Verstorbenen sofort bei sich aufnimmt. Wer zu Lebzeiten viele Sünden begangen hat, muss nach ihrem Glauben nach dem Tod noch dafür büßen. An Allerseelen beten viele katholische Christinnen und Christen daher besonders für die erst kürzlich Verstorbenen. In den Gebeten bitten sie Gott, ihre Seelen bei sich aufzunehmen.«
Wie erfrischend muss es sich dagegen anfühlen, das Totengedenken stattdessen als Fest zu feiern — mit Tanz und Musik, Streetfood und Trommeln, Spielen und Feuerwerk. Die Ursprünge des Bon mögen sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren lassen. Gemäß einer der Versionen geht das Festival auf den Versuch des Buddha-Schülers Moggalana — bzw. auf Japanisch: Mokuren — zurück, seine Mutter aus dem Fegefeuer zu befreien; den Rat, zu diesem Zweck ein Fest für die letzten sieben Generationen der Verstorbenen zu veranstalten, erhielt er von Buddha selbst. Aus seinem Freudentanz, den er wegen der geglückten Befreiung begann, soll das Festival entstanden sein. Eine weitere Version führt die Ursprünge des Bon auf den Brauch des Volkes Nebutsu zurück, das die Geister der Toten mit Tänzen begrüßte.
Tanz und Feuer
Beide Varianten sorgen jedenfalls nicht für bleischwere Betrübnis, sondern eben für ausgelassene Fröhlichkeit beim japanischen Totenfest — und erklären gleichzeitig die große Bedeutung des Tanzes. Nicht nur dass viele Regionen eigene Lieder und Tänze haben. In Tokushima lockt das berühmteste der Bon-Feste, das Awa Odori, jährlich mehr als eine Million Menschen an, und die Tanzparade dauert mehrere Tage lang. Hier mischt sich noch eine dritte Entstehungsgeschichte unter: Ein Burgherr soll über die Fertigstellung seiner Festung so erfreut gewesen sein, dass er der Bevölkerung jede Menge Reiswein spendierte. Das Volk berauschte sich und tanzte betrunken auf den Straßen.
Feuer spielt in verschiedenen Riten des Obon eine wichtige Rolle. So entzünden Familien am ersten Tag des mehrtägigen Festzeitraums ein kleines Feuer oder hängen Lampions aus, um die Geister der Verstorbenen zu begrüßen. Am letzten Tag platzieren sie diese wieder auf dem Grab oder setzen sie im Fluss aus, um die Geister der Toten wieder ins Jenseits zu verabschieden. Manche Regionen entzünden auch große öffentliche Feuer, so beispielsweise die Stadt Kyoto, deren Feuer die Form des Kanji Dai aufweist.
Feiern, wie die Feste fallen
Auch wenn der Gang zum Friedhof und die Reinigung des Grabes Verstorbener auch heute noch zum Obon zählt, fühlen sich die meisten Menschen in Japan den spirituellen Absichten des Festes nicht mehr so verbunden. Die Festtage im Juli bzw. August, je nach Region, gelten auch nicht als staatliche Feiertage. Dennoch handelt es sich neben der Kirschblüte und dem Neujahrsfest um eine der drei großen Urlaubszeiten mit zumindest betrieblichen Ferien, die viele Familien nutzen, um zusammenzukommen, miteinander zu feiern — und eben auch der Toten zu gedenken.
Das Obon findet auch in japanischen Gemeinschaften außerhalb Japans nicht nur statt, sondern auch regen Zulauf, so etwa in Malaysia und in Hawaii. Wäre das Totengedenken auch hierzulande mit solcher Fröhlichkeit versehen und läge nicht im kalten November, sondern im heißen August, erfreute es sich vermutlich deutlich größerer Beliebtheit als unser trist-depressiver Allerseelen-Tag. 終