Segen aus dem Stein
Konsolenspiele und Videoclips auf entsprechenden Plattformen ziehen mich immer wieder in das Flair Japans hinein, auch ohne dass ich das Land live und vor Ort erleben kann. Jüngst weckte ein Walk-Videoclip — also ein Spaziergang, auf dem sich Video-Influencer per Kamera vom Publikum begleiten lassen — meine Neugier auf eine Facette der japanischen Spiritualität, die mir auch schon früher aufgefallen war: Wer darauf achtet, stößt immer wieder auf steinerne Bildnisse, die einzeln oder in Gruppen für eine bestimmte Idee stehen.
Von virtuell nach real
Zuerst begegnete ich diesem Phänomen im Spiel ›The Legend of Zelda: Breath of the Wild‹: In der gesamten Spielewelt findet der Held immer wieder eine Reihe von zwei oder drei Stein-Statuen, vor denen jeweils eine leere Schüssel auf den Boden steht. Legt der Held im Spiel nacheinander in jede Schüssel einen Apfel, erhält er zum Dank einen speziellen Gegenstand. Über den Gedanken dahinter oder die Bedeutung der Statuen findet sich nirgends eine Erklärung.
Gleichwohl nehmen die Spieleentwickler damit vermutlich bei in Japan weit verbreiteten spirituellen Strömungen Anleihe. Sowohl der Shintoismus als auch der Buddhismus haben vielerlei steinerne Bildnisse hervorgebracht. So sollen buddhistische Mönche in früheren Zeiten für jedes verstorbene Pferd oder jeden verstorbenen Ochsen eine Statue aufgestellt haben. An (gefährlichen) Wegen, an Wegkreuzungen oder an den Grenzen von Städten und Gemeinden finden sich steinerne Götterbilder, die über Reisende wachen. Solche ›Dōsojin‹ nehmen nicht nur die Form einer Statue an, sondern sie können auch als Relief auftreten. Der Volksglaube besagt, dass sie eine Gottheit nicht nur symbolisieren, sondern dass die Götter tatsächlich in ihnen wohnen.
Schutz den Kindern und den Reisenden
Dazu zählt auch Jizō Bosatsu, eine der wohl populärsten Gottheiten Japans. Sie wird als einzige mit den Attributen buddhistischer Mönche dargestellt, nämlich ohne jeglichen Schmuck und ohne prunkvolle Tracht, sondern gekleidet in eine schlichte Robe und mit kahlem Kopf. Jizo-Figuren beeindrucken immer dann besonders, wenn sie in großer Zahl an einem Ort versammelt stehen, wie etwa am Zojo-jin-Tempel in Tokyo, am Hasadera-Tempel in Kamakura oder am Daisho-Tempel in Miyajima.
Entgegen einem oberflächlichen Verständnis begleiten die Statuen nicht nur die Seelen verstorbener Kinder. Sie sollen darüber hinaus, wie auch die übrigen Dōsojin, für die Sicherheit von Reisenden sorgen und gerade auch lebenden Kindern Segen verleihen, damit sie gut und gesund aufwachsen. So ist auf einer Tafel am Zojo-jin-Tempel in Tokyo zu lesen: »Diese Begleit- und Schutz-Gottheiten widmen sich dem sicheren Aufwachsen von Kindern und Enkelkindern und dem Gedenken an totgeborene Kinder.«
Einzigartige Atmosphäre
Vielleicht liegt es an ihrer Ausstrahlung von Friedlichkeit, vielleicht an ihrer recht weiten Verbreitung, vielleicht an der spannenden Variation, ob sie als einzelne Statue oder zu zweit oder zu dritt auftreten, oder in einer riesigen Menge an einem Ort; vielleicht liegt es auch allein an der Tatsache, dass die Jizō-Statuen durch ihre menschenähnliche Figürlichkeit doch den Eindruck von einem lebenden Wesen vermitteln. Schon aus der Ferne und recht indirekt durch verschiedene Medien hindurch verspüre ich aber die besondere Atmosphäre, die sie erzeugen, und freue mich darauf, solche Jizō-Stätten einmal selbst aufzusuchen.
終