Kaiju Kultur

Hang zur Übergröße

In Japans Popkultur spielen überlebensgroße Figuren eine wesentliche Rolle — ob nun Roboter oder Monster. Wir ergründen, weshalb.

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Eine gigantische Motte setzt zum Sturzflug auf die größte Stadt der Welt an; Soldaten graben einen viele Meter messenden Kopf aus einer sandigen Düne aus; mechanische Tiere in Überlebensgröße bringen ihre Geschütze gegen das Böse in Stellung — die japanische Popkultur ist reich an riesigen Figuren, die jeden Menschen daneben wie einen unbedeutenden und machtlosen Winzling erscheinen lassen. Sie verfügen meist über besondere Kräfte, die ihnen neben ihrer schieren physischen Überlegenheit zusätzliche Macht verleihen. Was macht die gigantischen Monster, Roboter und Co. so interessant für die Menschen in Japan?

Mehr als nur die Monsterinsel

Das Genre der Filme über Mega-Monster hat längst eigene Bezeichnung erhalten: Kaiju Eiga. Ein Dokumentarfilm über die Anfänge des Godzilla-Franchise stellt die wechselseitige Beziehung zwischen der Atombombe und der Riesenechse heraus. Und auch in einem Beitrag des Nachrichtenmagazins Focus heißt es: »Film- und Kulturexperten haben Godzilla nicht zuletzt als Sinnbild für die Ängste der Menschen nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki beschrieben.« Doch der deutsche Autor Jörg Buttgereit sieht in den Bestien weit mehr als »nur Metaphern für den Weltuntergang«: In seinem Buch ›Japan. Die Monsterinsel‹ schreibt er: »Sie sind Identifikationsfiguren für Kinder, Objekte leidenschaftlicher Sammlertätigkeit, Stressbewältiger, Symbole der Stärke und ein Barometer politischer Stimmungen.«

Auch die Monster im Hollywood-Streifen ›Pacific Rim‹ von 2013 erhalten die Bezeichnung ›Kaiju‹. Dennoch beschränken sich riesige Lebewesen keineswegs nur auf die Blockbuster-Industrie. Auch in Animes treten sie auf, beispielsweise in ›Nausicaä aus dem Tal der Winde‹ von Studio Ghibli, genauso wie in Computerspielen, etwa in ›The Legend of Zelda: Breath of the Wild‹ von Nintendo. Sie spielen je nach Situation unterschiedlichen Rollen: Die vier Titanen im Computerspiel, mechanische Kampfmaschinen in der Gestalt eines Vogels, einer Eidechse, eines Elefanten und eines Kamels, sollen den Helden im Kampf gegen den Endgegner unterstützen, indem sie dessen Verteidigung mithilfe ihrer schweren Geschütze schwächen. Die Giganten im Anime erscheinen dagegen nur noch als willenlose Zombies, die von den Aggressoren zwar reaktiviert und eingesetzt werden können, aber keine echte Durchschlagskraft mehr entfalten. Godzilla und Co. suchen ebenfalls aus jeweils unterschiedlichen Motiven die Lebensräume der Menschen auf: mal um diese in ihre Schranken zu weisen, mal um sie vor selbst erschaffenen Gefahren, beispielsweise riesigen Robotern, zu schützen.

In der Fiktion hat Japan es regelmäßig mit gigantischen Wesen zu tun.

In der Fiktion hat Japan es regelmäßig mit gigantischen Wesen zu tun.

Stets wachsam zu sein

Die europäische Kultur kennt mit Hyperion, Kronos, Atlas usw. ebenfalls riesenhafte Wesen, die Titanen: Götter in Menschengestalt. Doch anders als in Japan erinnert hierzulande im täglichen Leben kaum etwas noch an sie, abgesehen von einem Museumsbesuch oder von Dokumentationen über das antike Erbe Europas. In Japans Kultur scheint die Überlebensgröße von Figuren dagegen auch heute noch fest verankert. Solche Giganten warnen symbolhaft vor vernichtenden Gefahren: ob nun durch andere Menschen, durch die Natur oder durch den eigenen Größenwahn. Die Gefühle und Absichten, mit denen sie in Zusammenhang stehen, wechseln von Geschichte zu Geschichte. Aber das Stilmittel, der Gigantismus, bleibt. Denn nichts fällt uns Menschen so sehr auf wie etwas, das nicht unserem eigenen Größenmaßstab entspricht — und das uns allein aufgrund seiner schieren Größe deutlich überlegen sein muss.

Der deutsche Kinderbuch-Autor Michael Ende demonstriert dieses Prinzip in seinem Buch ›Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer‹ übrigens auf umgekehrte Weise: Der Scheinriese Herr Tur Tur, eine der Figuren des Romans, erscheint aus der Ferne betrachtet gigantisch groß. Erst beim Näherkommen schrumpft er auf die ›normale‹ Größe zusammen. Er stellt sich als harmloses und einsames altes Männchen heraus. Von ihm droht keine Gefahr. Für die Mega-Wesen aus Japan dagegen gilt: Achtung, da ist ein Thema im Anmarsch, das höchste Aufmerksamkeit verdient. Und sei es als Filmposter oder Spielfigur.

Jojo

Seine Blogging-Erfahrung und sein Geographie-Studium machen ihn zum idealen Schreibtisch-Entdecker ferner Länder. Für die Texte auf japanfuchs.de scheinen seine Fingerkuppen beinahe schon mit der Tastatur zu verwachsen.

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